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Cima della Madonna, Spigolo del Velo - Schleierkante



Als wir uns vom Parkplatz in der Nähe der Malga Civertaghe an die 908 Höhenmeter Aufstieg ("verteilt" auf 2,5km!) zum Rifugio Velo della Madonna machen, ragt die Cima della Madonna hoch und steil wie ein gigantischer Schrammtorwächter vor uns auf.

Cima della Madonna und Sass Maor sind zweifellos zwei Wahrzeichengipfel in den Pale di San Martino ("Pala-Dolomiten"), die den südlichen Abschluss der Berggruppe bilden.

 

Cima della Madonna, Sass Maor - und ich  :)
Cima della Madonna, Sass Maor - und ich :)

"Trad is rad" - oder: "Trad is rough" = Kein Speck weit und breit!

Die Schleierkante an der Cima della Madonna wurde vor 100 Jahren im Juli 1920 durch Gunter Langes und Erwin Merlet erstbegangen und ist für mich eine der herausragendsten Linien, die ich in den Dolomiten bisher entdecken konnte - abseits vom Trubel diverser Pässe oder der Drei Zinnen. Im Grunde erwarten den Kletterer rund 500 Höhenmeter Kantenkletterei in bestem Dolomiten-Kalk. Kurz: Die Kante muss ich haben!

 

Dem Ruf, eine "klassische" und damit nicht übersicherte Route zu sein, hat es die Kante wahrscheinlich zu verdanken, dass der Fels nach so vielen Jahren und Begehungen auch heute noch griffig und rau ist und sich der Kletterer nicht über blank polierte Reibungstritte nach oben fürchten muss. Mit einigem Schrecken denke ich an die "Via Miriam" am Torre Grande (Cinque Torri) - da wäre man mit Schlittschuhen (oder Grödeln - je nachdem) gut beraten gewesen.

 

Spigolo del Velo/ Schleierkante, Cima della Madonna, Wegskizze (Zustieg und Kante)
Spigolo del Velo/ Schleierkante, Cima della Madonna, Wegskizze (Zustieg und Kante)

"Early Bird" - wir wollen die Ersten sein!

Willkommen in der Bergwelt, YES!

Im Rifugio Cinque Torri gab es Frühstück ab 7.30 Uhr und selbst wenn man pünktlich um diese Zeit am Tisch saß, so zog es sich locker noch 15 Minuten hin, bis man Kaffee und eine sehr übersichtliche Menge an Brot bekam. Nach jeweils dreimaligem Betteln um eine weitere Schreibe habe ich es dann in der Regel aufgegeben ... es gibt ja schließlich auch irgendwann Abendessen ;)  ... und zum Glück ist Agnes auch nicht so verfressen wie ich.

 

Im Rifugio Velo hingegen geht es bereits 6.15 Uhr zackig zur Sache. Kaffee und Brot in erfreulich großen Mengen stehen sofort auf dem Tisch und 7.00 Uhr starten wir als erste von der Hütte motiviert zum Fels. Mein Herz hüpft vor Freude vor mir her, als wir über den Velo-Klettersteig zum Einstieg der Schleierkante turnen. Endlich! Die Kante! Ich bin unglaublich gespannt und voller Respekt. Je nach Topo erwarten uns zwischen 10 und 15 Seillängen. Offenbar gibt es Seillängen-Spielraum. Na dann!

 

Sass Maor (links) und Cima della Madonna (rechts) - wie ein gigantischer Schrammtorwächter
Sass Maor (links) und Cima della Madonna (rechts) - wie ein gigantischer Schrammtorwächter

Mit Profis arbeiten!

Kurz nach dem Ende des Klettersteigs überholt uns eine Dreierseilschaft mit Bergführer. Behände hopst der Guide an uns vorbei und huscht die Einstiegsrampe bis zum angekündigten Steinmann (Ometto) hoch. Seine beiden Begleiter schnaufen weitaus weniger schnell und weniger elegant die Rampe hinauf  - wir hinterher. Als wir am "Start-Stand" ankommen, hat der Führer bereits die Seile ausgepackt, Gurt angezogen, bestückt und die beiden Nachsteiger eingewiesen. Wow.

 

Vor uns liegt ein schier endloses Feld aus grauem Kalkstein und ein Blick auf unsere diversen Topos verrät uns, dass uns in den ersten beiden Seillängen auch keine Haken oder ähnliches bei der Wegfindung helfen würden. Wir müssen also ins Blaue bzw. Graue klettern - oder dem Bergführer hinterher, der bereits wieselgleich 45m weiter oben hinter einem Block verschwindet und "Sosta" (Stand) brüllt. Die beiden Nachsteiger starten, das Mädel recht flink, der etwas kräftigere Mann mit nagelneuen Kletterschuhen deutlich langsamer (die Gruppe würde uns wahrscheinlich nicht verloren gehen).

 

Nun aber fix hinterher. Anges übernimmt die erste Seillänge im II./III. Grad (weil ich immer Startschwierigkeiten habe ....) und turnt der Gruppe hinterher. Mittlerweile ist eine weitere Seilschaft am Steinmann aufgetaucht: Es sind die beiden netten Italiener (Verona, Florenz), die mit uns beim Abendessen am Tisch saßen.

 

Blick zum Cima di Ball
Blick zum Cima di Ball

Maß der Dinge: Flexi-Seillängen

Agnes hat nach 30m zwischenzeitlich eine Art Stand entdeckt - noch unterhalb vom Bergführer. Dann geht sie bis zum Stand des Bergführers weiter. Aha, Kategorie: "Bastle dir eine Seillänge."

Ich klettere hinterher - eine III-er Rampe, unspektakulär, gemütlich und so wunderbar griffig. Am Stand aus einem Bündel von Schlingen durch eine Sanduhr verschwindet gerade der männliche Nachsteiger der Dreiergruppe, so dass wir genügend Platz haben.

Die nächste Seillänge steige ich vor, irgendwas zwischen III und IV. Die Kletterei ist genial, Schlingen liegen reichlich (Friends und Sanduhren). Es kommt tatsächlich ein Schlaghaken, WAHNSINN und dann ein weiterer Stand an einem Bündel Schlingen durch eine Sanduhr. Dem Sachsen rutscht angesichts der Dicke der Sanduhr das Herz in die Hose. Schnell fummle ich noch einen Friend und eine Kevlar dazu.

Der Bergführer hat nun allerdings einen Vorsprung herausgeklettert, denn er ist einen Stand weiter gegangen. Nun wird mir das Seillängenkonzept endlich klar: Es handelt sich hier um Flexi-Seillängen - oder jeder wie er will.

 

Während der Nachsteiger vom Bergführer (das Mädel ist längst über alle Berge) noch mit einem kleinen Bauch (IV+) zu kämpfen hat und sich eher weniger elegant darüber wuchtet, hole ich Anges nach. Die beiden Italiener sind dort auch schon eingetroffen und warten in gebührendem Abstand (Corona?).

 

Es läuft!  ... und wie!

Eigentlich läuft es zunächst gerade nicht. Am unteren Stand gibt es Seilfitz - ziemlich blöd bei Halbseilen. Irgendwann ist das Wirrwarr beseitig, Agnes kommt zum Stand und nimmt die nächste Flexi-Seillänge in Angriff. Die IV+ Stelle überwindet sie derart lässig, so dass mir nicht klar ist, wie der Typ vorher ein Problem haben konnte. Dann verschwindet sie über das Dächlein. Die Italiener sind mittlerweile bei mir am Stand und referieren was von einer 40m-Seillänge (aha: Noch ein anderes Topo!).

Dann läuft das Seil und läuft und läuft und ... läuft. Wir schauen uns fragend an. Der Seilvorrat schrumpft und ich befürchte, dass Agnes das mit den Flexi-Längen etwas zu großzügig ausgelegt hat. Vorsorglich baue ich den Friend ab und die Kevlar. Irgendwann ist das Seil aus. Gerade beschließe ich also am "fließenden" Seil nachzusteigen, als der Ruf "Stand" zart zu mir herunter schwebt. Na denn, ich starte in die 60m Seillänge, in der sich tatsächlich zwei Schlaghaken befinden. Läuft! Definitiv!

 

Nähmaschine, Nerven und Neue Wege

Wieder ist die Seillänge sehr schön, es gibt besagte Schlaghaken und jede Menge Sanduhren. Da wir wegen der Flexi-Seillängen ein wenig den Überblick über die aktuelle, topospezifische Seillängenanzahl verloren haben, sind wir nicht so ganz sicher, wann denn nun die erste Schlüsselstelle (eine V+ oder ein Körperriss für V) kommt. Zumindest sind dafür einige Schlaghaken angekündigt.

 

Am Stand angekommen sehe ich, wie das Seil vom Bergführer im wilden Zickzack über einen dicken Boulderbauch durch einige Schlaghaken hindurch nach links um eine Art Pfeiler läuft. Aha: Schlaghaken! Pfeiler! Demnach handelt es sich hier wohl um die erste Schlüsselstelle. Im Topo steht etwas von "Seilzug" - angesichts der Seilführung, die sich uns bietet, ist dieser Hinweis tatsächlich recht glaubwürdig (im Gegensatz zu den Meterangaben der einzelnen Seillängen).

 

Als der Nachsteiger dem Mädel hinterherklettert, werde ich von Anges aufgeklärt, dass es sich bei dem Mädchen um die Tochter des Bergführers handelt, die er offenbar als Assistenz für den unerfahrenen Kunden mitgenommen hat (Sicherung, Coach, ...). Hm.

Das Mädel ist an der Boulderstelle angekommen und überwindet sie mit einiger Mühe. Oha! Jetzt schauen wir genauer hin. Der Nachsteiger setzt an, den Bauch zu überklettern. Dann verharrt er in der Bewegung, den Körperschwerpunkt meilenweit vom Fels entfernt. Das Mädchen ruft noch Tirare!" (Ziehen!) nach oben und platsch: Der Nachsteiger scherbelt über den Bauch zurück auf den Absatz. Huh! Nicht schön. Nein, gar nicht schön.

Man sieht ihm den Schrecken an. Er sammelt sich und versucht erneut, den Boulderbauch zu überwinden.

 

Das sieht besser aus und ich starte in Richtung Boulderstelle. Anges guckt schon mal vorsorglich skeptisch. Was ist die Alternative? Körperriss für V? (mit Rucksäcken und Gerassel am Gurt? *panik* ). Behutsam klettere ich an den Nachsteiger heran. Dieser schnauft und ächzt in seiner viel zu dicken Jacke mit dem viel zu großen Rucksack (hat der Bergführer keine Augen im Kopf?). Seine Hand hat er verkrampft durch eine Dauerschlinge gewunden, die durch einen Schlaghaken gefädelt ist. Die Füße schlackern über den Fels. Permanent rutscht er ab. Das Mädel gibt ihm gute Tipps, während sie in regelmäßigen Abständen "Tirare" nach oben brüllt. Das Seil ist bereits superstraff gespannt. Bei dem Seilzug, kommt beim Typ definitiv nicht viel an, wenn der Bergführer weit oben daran zieht. Einen Flaschenzug scheint er offenbar nicht zu beherrschen.

 

Dann geht das eine gute Weile so weiter.

Mittlerweile ist der Nachsteiger komplett festgegangen. Mit Nähmaschine in beiden Füßen schlottert er auf den abschüssigen Tritten mit in der Schlinge verkrampften Händen vor sich hin. Das Mädchen und ich geben abwechselnd Tipps. Zwischendurch brüllt sie nach oben. Mir tut er leid. Agnes und die beiden Italiener verfolgen das Spektakel vom Stand aus mit einiger Skepsis.

 

Die Situation zehrt an meinen Nerven und ich klettere vorsichtig zur letzten guten Sanduhr zurück, um mich zu beruhigen. Kaum bin ich einen Schritt zurück geklettert, floppt der Mann erneut aus dem Weg und knallt gegen den Bauch. Erschrocken schaue ich auf und sehe, dass er den Schlaghaken samt Schlinge herausgerissen hat. Meine Güte! Gruslig ist gar kein Ausdruck.

Dann verschnaufe ich an der Sanduhr. Die Italiener klettern plötzlich rechts an mir vorbei zu einem Stand, den ich bisher nicht entdeckt hatte. Körperriss? Sie werden doch nicht ...?

 

Das Mädel und der Bergführer brüllen noch eine Weile durch die Gegend, das meiste verstehe ich nicht. Am Ende läuft es jedoch darauf hinaus, dass die beiden abgelassen werden. Nach einer Weile seilt auch der Bergführer ab und baut die Schlingen aus.

Das war´s: Ich brauche eine Pause und streiche die Vorstiegs-Segel. Agnes geht vor und checkt die Boulderstelle aus (Boulderstellen sind eindeutig das Metier von Agnes!). Nachdem sie eine Weile kritisch an dem Felsen herumgefingert hat und den herausgerissenen Haken nicht durch einen Friend ersetzen konnte, tritt sie den Rückzug an. Es gibt keinen erlösenden Henkel, sie erklärt, dass sich die V+, eher VI-, an der einen Stelle ballt und Sicherung ist praktisch nicht mehr vorhanden ist.

 

Die beiden Italiener winken uns zu sich und erklären mir, dass es zwischen Zickzack-Bauch-Boulder und Körperriss noch eine Variante für V gäbe - mit gleich vier nutzerfreundlichen Schlaghaken (chiodi) auf den ersten 10 Metern. Offenbar schaue ich zweifelnd angesichts der Verkündung einer solch geradezu üppigen Sicherung, denn sie bekräftigen den Vorschlag und lassen mir den Vortritt.

Tatsächlich kann auch ich von unten bereits drei der Haken sehen. Was soll das sein? V? Na dann, auf geht´s! Boulderbauch und Körperriss sind ja auch keine Lösung. Der Einstieg ist auf dem gelblichen Stein recht glatt und der dritte Haken wackelt. Den vierten Haken habe ich bereits erspäht. Ich verharre unschlüssig am dritten Haken (verharren kann ich gut und lange!) und bastle einen Keil dazu.

Agnes rollt die Augen (kann ich nicht sehen, aber mir gut vorstellen) und ruft mir zu, ich solle endlich weitergehen.

Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Beherzt mache ich einen Tritt nach links und einen Zug nach oben. Es wird sofort leichter. Ich freue mich, die Italiener auch (vermutlich, weil sich so die Wartezeit verkürzt) und Agnes seufzt erleichtert auf.

Dann läuft es wie am Schnürchen. Rund 35 bis 40m steile, griffige Plattenwand im unteren V. Grad, die noch vier weitere Haken bietet und dazu einige Sanduhren. Oben habe ich keine Schlingen und Exen mehr und dafür reichlich Seilzug (Ha: Das Topo stimmt!).

 

Spigolo del Velo, 1. Crux: Warten am Boulderbauch.
Spigolo del Velo, 1. Crux: Warten am Boulderbauch.

 

Seil von oben ist eine gute Sache! ... oder viele Wege führen an die Kante!

Anges kommt etwas unentspannt am Stand auf dem Pfeiler an: Wir hätten zuviel Zeit verloren und überhaupt ... Der Boulderbauch hat offenbar bei ihr Spuren hinterlassen.

Es ist gerade mal 12.00 Uhr und eigentlich sieht der Weiterweg toll aus: Je nach Topo 70 bis 80m Kantenkletterei im oberen IV. Grad. Im Topo steht "schön" mit Ausrufezeichen ... da das mit dem "Seilzug" schon stimmte, wird das "schön" sicherlich auch zutreffen (bin ich überzeugt).

Vor dem Kantenglück liegt der Übertritt vom Pfeiler an die Wand. Agnes startet in einem Riss nach rechts unten mit Seil von oben. Nach zwei Metern wird sie panisch, denn der Riss hängt über und die Füße haben keine Tritte mehr.

Das soll jetzt IV sein? Hm.

Sie zappelt, ich nehme straff. Sie bastelt einen Friend rein, dann zappelt sie weiter. Sie findet einen Griff, die Füße den Schartenboden. Irgendwann ist sie unten, legt für mich noch eine Schlinge und steigt schimpfend zum Stand an der gegenüberliegenden Wand. Dort entdeckt sie auf dem Kopf des Pfeilers (bis dahin waren wir natürlich nicht geklettert) den "eigentlichen Stand" und auch eine Wand, die man abklettern könnte, ich wette sogar für IV!

Also baue ich kopfüber den Friend aus und klettere auf den Pfeilerkopf. Da wir keine Lust auf Experimente haben, seile ich am fetten Schlingenstand ab.

Jetzt können wir den Italienern gute Tipps für den Übertritt geben. Das Abklettern nach rechts unten bleibt ihnen so erspart - vielleicht aber wären sie eh auf die Idee gekommen, auf das Köpfchen zu klettern ;)

 

Alte Schlaghaken vs. alte Schlaghaken - doppelt hält auf jeden Fall besser!

Begeistert steige ich in die Kante ein. Leider ist diese Seillänge schneller zu Ende, als mir lieb ist. Agnes kommt hinterher. Sie übernimmt die Führung - immerhin winkt in der kommenden Seillänge wenigstens ein Schlaghaken. Ha!

Die Italiener schließen zu mir auf. Dann warten wir, dass Agnes den Stand erreicht. Dieser sollte ca. 35m über uns sein.

Nach 30m steht sie wie erstarrt und geht nicht mehr weiter, auch nach einigen Minuten nicht.

Wir werden unruhig. Dann ruft sie herunter, dass das irgendwie der Stand (zwei alte Schlaghaken) und ihr das alles nicht geheuer sei!

Die Italiener checken ihre Beschreibung (diese hat sich bisher als die zuverlässigste erwiesen) und stellen fest, dass sich der Stand tatsächlich an zwei alten Schlaghaken befindet. Ich gebe Agnes also das "Ok" für den Stand an den beiden alten Haken. Sie erstarrt erneut, schimpft dann eine Weile vor sich hin und bastelt schließlich mit einem Friend eine Redundanz. Noch immer wirkt sie nicht überzeugt und nimmt den Weiterweg gerade nach oben in Augenschein. Das jedoch ist niemals nur IV!

Sie gibt schließlich auf. Wir seufzen kollektiv erleichtert und ich steige nach. Die Italiener folgen mir dicht. Je näher ich dem Stand komme, umso panischer wirkt Anges. Klar, mit jeder entfernten Zwischensicherung ist auch ein Seilschaftsabsturz grundsätzlich möglich. Ehrlich gesagt aber kann ich mir so gar nicht vorstellen, dass der Stand derart schlecht sein soll. Bisher waren die Stände zwar wahrlich nicht "DAV-genormt", aber wirkten in der Summe ganz solide.

Als ich bis auf wenige Meter an den Stand heran geklettert bin, erkenne ich das Problem: Der eigentliche Stand (an zwei alten Schlaghaken) ist fünf Meter (die "fehlenden" fünf Meter) weiter links. Dort erschließt sich auch der Weiterweg.

Ich gehe dahin und hole Agnes nach.

Wenn wir das Seil nicht umrobeln wollen, muss Agnes weiter vorsteigen. Das tut sie auch. Der Italiener versichert, dass es nun leichter wird. Das trifft wohl zu, denn erneut hat sie ruckzuck die 60m Seil ausgestiegen (Flexi-Seillänge).  Die Italiener witzeln darüber, dass sie wohl nur 60m-Seillängen klettern kann. Ich steige längst nach, als sie endlich "Stand" ruft (ich beschließe aber, ihr diese Tatsache zur Nervenschonung zunächst zu verschweigen).

 

Betreutes Sächsisches Klettern, YES!

Agnes sitzt auf bzw. hinter dem zweiten Pfeiler. Der zweite Übertritt steht bevor und die zweite Schlüsselstelle, in der man aus einer V+ mit A0 eine IV machen kann, wartet gegenüber. Na dann!

Weiter oben sieht man eine Seilschaft die letzte Seillänge aussteigen. Später erfahren wir, dass die beiden Kletterer aus der Via Messner von links gekommen sind.

 

Ich bin am scharfen Ende und entdecke auf der gegenüberliegenden Wand einen Schlaghaken mit zerfaserter Schlinge. Ich gehe davon aus, dass man sich an dem Ding beherzt rüber schwingen soll. Boar! Nee danke!

 

Also steige ich ein Stück ab und als geübter Sachsenkletterer fällt mir der Übertritt nicht schwer. Schnell habe ich den Fuß an der Wand gegenüber, die zerflauschte Schlinge ignoriert und den Schlaghaken selbst geklippt.

Dann hängt es über. Große Griffe winken ein Stück weiter oben, doch wie man hier A0 klettern soll ist mir mangels Haken ein echtes Rätsel. Ich verharre also und denke über Henkel und Tritte nach (wie gesagt, das kann ich laaaaaange!).

Anges kennt das Spiel und bevor ich abfalle, beginnt sie daher mir haarklein Griffe und Tritte anzusagen. Ich mache exakt, was sie mir ansagt. Klappt. Ehe ich mich versehe, stehe ich zwar im steilen, aber nicht mehr hängendem, Gelände. Sehr geil!

Es kommen noch zwei Schlaghaken und viele Sanduhren. Nach rund 40m beginne diesmal ich den Stand zu suchen. An einem riesigen Block hole ich schließlich nach. Diesen spanne ich mit einem Schlaghaken aus der nächsten Seillänge ab.

Später erklärt mir der Italiener, dass dieser Haken und einer weiter oben wahrscheinlich der Stand gewesen ist. Sicher ist er aber auch nicht.

 

Spigolo del Velo, in der vorletzten Seillänge - Blick zurück zum Stand und ins Tal
Spigolo del Velo, in der vorletzten Seillänge - Blick zurück zum Stand und ins Tal

Profis am Werk, II. - oder "Es läuft", II.

Nun ist Agnes wieder dran. Die vorletzte Seillänge im III. Grad. Sie startet und fragt nach 15m ob sie richtig ist. Da ich es mittlerweile aufgegeben habe, die Topos zu deuten, frage ich den Italiener. Der zuckt mit den Schultern und meint, die vorherige Seilschaft sei zumindest auch da lang geklettert und nicht zurück gekommen. In diesem Sinne!

Agnes quert also einige Meter nach links, findet einen Stand - der Italiener und ich grinsen uns an: Wenigstens nicht wieder 60m. Es läuft!

Ich turne hinterher. Mittlerweile hat Agnes sogar Nerven für Fotos und ich gehe dann bis zum Gipfel. Dieser erweist sich als vollgepinkelte (wetten: Männer?) Fläche vor einem recht beeindruckenden Grat. Es ist 15.30 Uhr und ich verspeise eine kompakte Haferflocken-Kalorienbombe (die hat mir mein Kind geschenkt, gute Sache!), während ich den Pinkel-Gestank ignoriere.

 

Spigolo del Velo, vorletzte Seillänge: Es läuft!
Spigolo del Velo, vorletzte Seillänge: Es läuft!
Spigolo del Velo, vorletzte Seillänge: Nerven für Bilder ;)
Spigolo del Velo, vorletzte Seillänge: Nerven für Bilder ;)

Die Tour ist erst zu Ende, wenn man wieder unten ist.

Standardspruch, leider zutreffend.

Wir nehmen also die Seile auf, ziehen die Kletterschuhe aus und verstauen eine Teil der Sicherung im Rucksack. Dann balancieren wir in 2.752m Höhe auf dem Grat an Steinmännnchen vorbei in Richtung der erhofften Abseilstelle im Winklerkamin (der nach dem Erstbesteiger Georg Winkler benannt ist, der den Gipfel am 12. August 1886 gemeinsam mit Alois Zott bezwang).

Der Grat wird schmaler, wie klettern ein Stück ab.

Agnes entdeckt einen brandneuen Bohrhaken (wir tippten auf den einzigen seiner Art am gesamten Gipfel). Der Bohrhaken schreit nach Sicherung. Also, Seil wieder raus und Anges turnt in den Kamin. Dort gibt es einen weiteren Bohrhaken (ok, dann gibt es wohl zwei am gesamten Gipfel) und einen der begehrten roten Pfeile, die uns den Abstieg lt. Topo weisen sollen.

Mit einigem Ächzen und "Oh-Rufen" quert Anges durch den Kamin. Es schnauft und stöhnt, schließlich ruft sie, dass sie am Abseilring ist. Die Italiener sind mittlerweile eingetroffen und beobachten unser Tun mit Interesse. Dann spreize ich im Winklerkamin hinterher. Sehr, sehr luftig und der Abseilring (1 & 2) hängt zwar abziehfreundlich frei - wir leider dadurch irgendwie auch. "Abenteuerlich" trifft es gut.

 

Dann seilen wir zweimal 20 bis 25m ab. Die Italiener gleich die ca. 50m. Clever - das geht sogar, ohne das Seil zu verklemmen. Kurz ziehen die Wolken auf, ich entdecke dadurch gleich drei rote Pfeile. Wow.

Die Italiener hingegen entdecken eine Abseilmöglichkeit an einem Schlingenbündel. Diese wird allerdings abgewählt, weil man beim Abziehen des Seils über die Rinne definitiv viel Geröll mit sich reißen würde. Agnes steigt also ab und findet eine Abseilstelle (3). Unten schimmern auf einem Band zwei weitere rote Pfeile. Wir seilen bis dahin ab und müssen die im Topo angedrohte IV nach rechts absteigen.

Dumme Idee.

Wir erklären den Italienern, dass sie auf ein Band weiter unten abseilen können und dann lieber hochklettern, statt runter. Das klappt. Ich sichere Anges nach rechts unten und seile mit den Italiener auf das untere Band ab. Während wir mit den Seilen beschäftigt sind, findet Agnes im Nebel die nächste Abseilstelle (4).

 

Abstieg Spigolo del Velo, nach dem dritten Abseilen
Abstieg Spigolo del Velo, nach dem dritten Abseilen
Abstieg, Cima della Madonna, letzte Abseilstelle
Abstieg, Cima della Madonna, letzte Abseilstelle

Hört das denn nie auf?

Das Topo schreibt von einer Rinne die nach rechts geht, allerdings gehen hier pausenlos Rinnen und Kamine nach rechts ab. Naja, wir folgen also brav einer Rinne nach rechts, diesmal ohne Pfeile dafür mit Steinmännchen. Auf der OpenStreetMap-Karte im Händi nähern wir uns beharrlich dem Wanderweg zur Hütte. Noch befinden wir uns im Nirwana, doch es wird!

Agnes wartet bereits an der nächsten Abseilstelle (5) an einem Block. Es geht steil nach unten und ein Schotterweg mit Steinmännchen schließt sich an. Wieder Seil aufnehmen, fädeln, abseilen. Der Italiener aus Florenz mault herum, ob denn das nie aufhöre. Er hat Recht. Doch Agnes verkündet bereits, dass sie eine weitere Abseilstelle (6) entdeckt hat. Meine Güte! ... und ja: Sie findet noch eine letzte (7). Endlich, wirklich endlich, stehen wir am Wandfuß im Süden. Es ist 18.15 Uhr und wir sind im Abstieg gefühlt einmal um den gesamten Gipfel geseilt.

 

Um 18.45 Uhr sind wir nach praktisch zwölf Stunden Cima della Madonna wieder an der Hütte. Puh!

Die Hüttenbesatzung zuckt angesichts dieser Zahl nur mit den Schultern und meint, dass die "Spigolo" halt eine längere Tour sei. Wir freuen uns zu viert! Die beiden Italiener steigen heute noch zum Auto ab und fahren nach Verona ("Doppel-Puh!).

 

Opfer gibt es immer!

Der Bergführer (Davide Depaoli von der Bergschule San Martino Primero) fragt später nach unserer Erfahrung und erklärt mir, dass es sein Kunde ja leider nicht geschafft habe - aber so etwas würde ja immer mal wieder passieren.

Ich bin, ehrlich gesagt, etwas fassungslos, denn für den "Kunden" ist an diesem Boulderbauch eine Welt zusammen gebrochen, so unglücklich wie er wirkte.

 

Warum der sehr versierte Bergführer aber nicht "unsere" Variante geklettert ist und den Boulderbauch links liegen gelassen hat, ist mir ein Rätsel. Denn diese Strecke hätte der "Kunde" sicherlich mit straffem Seil und Sitzen bewältigen können. Allerdings traue ich mich nicht, ihm exakt diese Frage vor den nächsten Kunden (Anwärter auf den Via Normale auf den Sass Maor) zu stellen. Wenn man allerdings etwas böswillig denkt (... denn mit dem unbeholfenen Nachsteiger, wäre der Bergführer locker auch zwölf Stunden oder mehr unterwegs gewesen - ganz zu schweigen von den Abkletterstellen im Abstieg) ... könnte man die eine oder andere Idee dafür entwickeln, warum er nicht auch die deutlich leichtere Variante geklettert ist ...

 

Tja, und mein Opfer ist eine 6er-Dynemaschlinge, die ich in der Sanduhr vorm Boulderbauch vergessen habe, an der ich mich ausgeruht habe. Die beiden Jungs vom Messnerweg wollen die Spigolo am nächsten Tag klettern, ich habe sie gebeten, sich die Dynema mitzunehmen.

 

Abstieg Cima della Madonna, 4. Abseilstelle
Abstieg Cima della Madonna, 4. Abseilstelle
Abstieg Cima della Madonna, ewig grüßt die Geröllrinne nach "rechts"
Abstieg Cima della Madonna, ewig grüßt die Geröllrinne nach "rechts"

 

Fazit: Schlimmer geht immer? Nee! Wir waren gut, YES!

Doch insgesamt und ganz ehrlich? Ich bin furchtbar stolz, dass wir uns in zugegeben großzügiger Zeit die Spigolo del Velo/ Schleierkante samt Abstieg ehrlich erarbeitet haben. Es war einfach eine richtig schöne Tour! ... und am Ende gelang es mir sogar, bereits im zweiten oder dritten Versuch, die richtige Größe der Friends zu finden ;)

 

Ein Topo mit "unseren" Flexi-Seillängen kommt hier noch. Wenn es einigen Klettern hilft, sich ein paar unserer "Try and Errors" zu ersparen (insbesondere den überhängenden Abstiegsriss am ersten Pfeiler), dann bin ich total glücklich :D

 

 

Zurück am Rifugio del Velo, Gearcheck :)
Zurück am Rifugio del Velo, Gearcheck :)
Topo Cima della Madonna, Schleierkante/ Spigolo del Velo
Topo Cima della Madonna, Schleierkante/ Spigolo del Velo